Katrin von Maltzahn: Jorges Luís Borges visited Melbourne for ten days. In Kornelia von Berswordt-Wallrabe: Koordinaten MV - Vom Wesen des Wandels. Schwerin: Staatliches Museum Schwerin 2008. p. 28-33
... wir wohnten im 14. Stock des UniLodge Hotels an der Swanston Street in Melbourne und hatten einen einzigartigen Ausblick auf das imposanteste Gebäude der Stadt – auf die State Library of Victoria. Ihr Herzstück bildet der La Trobe Reading Room, ein riesiger, achteckiger Kuppelraum, der zur Zeit seiner Fertigstellung 1913 der größte seiner Art war. Die Deckenkonstruktion ist aus Stahlbeton, Backstein und Glas. Ihre Form wird in dem Grundriss und der Innenarchitektur weitergeführt. Direkt unter dem Auge der Kuppel sind Pulte zu einem kleinen Oktogon angeordnet. Davon ausgehend sind acht langgestreckte Lesetische zu den Ecken ausgerichtet. Im Kontrast zu den geweißten Wänden und der durch das einfallende Tageslicht gleißenden Gewölbedecke sind die Einbauten aus dunkel schimmerndem Eichenholz.
Ziemlich bald nach meiner Ankunft berichtete ein Freund, Jorge Luís Borges habe Ende der dreißiger Jahre in dem Kuppelsaal der Bibliothek gearbeitet – kurz bevor er erblindete.
Ich begann eine Spurensuche.
An den Wänden des Lesesaals entdeckte ich eingravierte Zitate verschiedener Autoren.
Eines davon war von Borges:
„I, who always thought of Paradise in form and image as a library.“ (1)
Ich durchsuchte die Register aller vorhandenen Borgesbücher und –Biografien.
Nirgendwo tauchte „Melbourne“ auf. Ich fragte herum, denn ich nahm an, dass der Besuch des berühmten Autors in Melbourne unter Australiern allgemein bekannt sein müsste. Ich weckte viel Neugierde, kam aber nicht weiter. „Australier interessieren sich nur für Sport“, kommentierte ein Mitarbeiter des lokalen Goetheinstitutes meine Verwunderung.
Schließlich wurde ich fündig. Im Internetarchiv von „The Age“, einer der größten Tageszeitungen Australiens, spürte ich Guy Rundles Artikel „A Surreal Visitor“ vom 22. April 2002 auf. Darin konnte ich nachlesen, dass Borges 1938 von einem Kreis leidenschaftlicher, gutbetuchter Anhänger nach Melbourne eingeladen worden war. Borges war damals noch weitgehend unbekannt. Er schrieb Gedichte und Essays und setze sich für ein verstärktes kulturelles Selbstbewusstsein der südlichen Hemisphäre ein.
Ich erfuhr, dass Borges 1938 für zehn Tage in Melbourne war. Er gab eine Lesung in dem Gebäude der Royal Society of Victoria. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch in dem Lesesaal unter der Kuppel der State Library.
Auf der Suche nach dem Geist von Jorge Luís Borges besuchte ich die Bibliothek regelmäßig.
Mich beeindruckte die Vollkommenheit des Gewölberaumes. Ich beschäftigte mich mit Struktur und Bedeutung eines Oktogons, durchstreifte die Bücherregale des Saales, in denen sich heute die La Trobe Collection befindet. Diese Sammlung enthält vor allem Materialien, die in Australien veröffentlicht wurden, Wesentliches über den Kontinent sowie Bücher von australischen Autoren.
Ich erkundete die angrenzenden Räume und Gänge, wanderte durch die Etagen so weit wie möglich zu der Kuppel empor und betrachte den Raum von den Galerien seiner drei Etagen aus so vielen Perspektiven wie möglich.
Rundles Artikel berichtet weiter:
– Borges hatte die weite, anstrengende Schiffsreise nach Melborne unternommen, obwohl er ernsthafte gesundheitliche Probleme mit seinen Augen hatte. Kurz nach seiner Rückkehr nach Argentinien platze eine Ader hinter seinen Augen und er erblindete.
Am Boden zerstört, begann er nach einiger Zeit, mithilfe seiner Mutter, der er seine Texte diktierte, erneut zu arbeiten. Um seinen Verstand zu testen, aber auch, um einen Neuanfang zu versuchen, nahm Borges Abstand von seinen Gedichten und Essays und wählte eine neue Form. Es entstanden seine fiktiven Kurzgeschichten – die ihn weltberühmt machen sollten.
Das bedeutete, zu Borges letzten visuellen Eindrücken gehörte der Kuppelsaal der State Library of Victoria.
Ich versuchte Guy Rundle zu kontaktieren und setzte mich mit „Blindsein“ über praktische Experimente in meiner eigenen bildnerischen Arbeit auseinander – z.B. begann ich viele Zeichnungen mit geschlossenen Augen oder ich produzierte haptische reliefartige Eigenschaften in meinen Bildoberflächen durch Faltungen im Papier.
Jeder, den ich befragte, berichtete mir etwas über die Bibliothek. Zum Beispiel lernte ich, dass die Oberlichter der Oktogon-Kuppel bis 2003 mit Kupferplatten zugedeckt waren. Ich erfuhr von dem Unterschied zwischen „Blackout“ und „Brownout“. Ersteres bedeutet die komplette Verdunkelung einer Stadt zu Kriegszeiten, damit die Bomben ihr Ziel nicht finden. „Brownout“ hingegen heißt, dass nur die strategisch wichtigsten Gebäude abgedunkelt werden. Melbourne ergriff diese Maßnahme als Japan in den zweiten Weltkrieg eintrat.
Jemand erzählte, die Kuppel wurde früher auch als Planetarium benutzt.
Ich traf Claire Williamson, eine junge Mitarbeiterin der Bibliothek. Sie war fasziniert von der Geschichte und stellte sofort eine Verbindung zwischen der Konstruktion des Lesesaales und der „Bibliothek von Babel“ her, einer von Borges’ bekanntesten Geschichten, in der Architektur eine entscheidende Rolle spielt. Sie verschaffte mir Kontakt zu Des Cowley, einem Bibliothekar, der schon seit 30 Jahren in der State Library arbeitete. Cowley sagte unmittelbar, der Artikel sei eine „Ente“. Ich erfuhr von einer Kultur der literarischen „Enten“ in Australien.
Williamson machte mich später auf einen im Internet veröffentlichten Text von Darren Tofts, einem Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Swinburne University of Technology in Melbourne aufmerksam. Tofts untersucht darin die Beziehung zwischen Realität und Fiktion, der Realität und ihren Kopien sowie die allmähliche Verwandlung von Kopien in Simulationen.
Borges Geschichten werden herangezogen und auch Guy Rundles Artikel. Am Ende seines Textes beschreibt Tofts, wie er versuchte, der Wahrheit hinter Rundles Artikel „The Surreal Visitor“ auf die Spur zu kommen. Er studierte die alten Passagierlisten des australischen Schiffverkehrs und die Veranstaltungskalender der Royal Society of Victoria. Doch seine Nachforschungen konnten die Geschichte weder gänzlich bestätigen noch widerlegen. Er kommt zu dem Schluss:
„It suffices that his [Borges] visit to Melbourne be possible for it to exist“. (2)
Schließlich reagierte auch Guy Rundle auf meine in alle Richtungen versendeten E-mails. Er bestätigte die „Ente“ und berichtete:
Jorge Luís Borges habe eine besondere Bedeutung für Australien, da er ein Schriftsteller der südlichen Hemisphäre sei. Wie viele Andere gehöre auch er zu seinen Verehrern. Vor einigen Jahren, unter der Kuppel der State Library Borges’ Bücher und Biografien lesend, habe ihn so etwas wie kultureller Neid überkommen - etwas, was ich oft in Australien beobachtet habe: Rundle fragte sich, warum Australien nicht einen Schriftsteller wie Borges hervorgebracht habe. Und wie Melbourne in den Augen seiner Landsleute wirken würde, wenn dies der Fall gewesen wäre.
Rundle schrieb seinen Artikel wie eine literarische Reportage mit vielen Details – unter anderem integrierte er zwei zu damaliger Zeit in Melbourne lebende, legendäre Persönlichkeiten.
Als er den Text seiner Redakteurin von „The Age“ anbot, überhörte diese, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelte. Nach der Veröffentlichung gab es riesigen Ärger. Die lateinamerikanische Fakultät der La Trobe Universität stürzte sich auf die Zeitung. Rundle war nahe davor, als freischaffender Journalist gesperrt zu werden
Eine Woche später veröffentlichte „The Age“ eine Klarstellung.
Was bleibt, ist das Eigenleben der Geschichte im Internet – ganz in Borges’ Sinne.
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(1) „Ich, der sich das Paradies immer in Gestalt und als Sinnbild einer Bibliothek vorstellte.“
(2) „Es reicht eigentlich aus, dass ein Besuch von Borges in Melbourne möglich gewesen sein könnte.“